Maßnahmen sind weniger rationale Problemlösungstools als vielmehr Symptome eines fundamentalen erkenntnistheoretischen Dilemmas – sie entstehen aus der Verschränkung von organisationaler Innenwelt und konstruierter Außenwelt und werden dadurch zu Ausdrucksformen ihrer eigenen Entstehungslogik. Diese systemische Rückkopplung manifestiert sich in der Ununterscheidbarkeit zwischen tatsächlichen Zielen und nachträglichen Rechtfertigungen, was Maßnahmen zu eigensinnigen Akteuren macht, die ihre vermeintlichen Zwecke überleben und transformieren.

Maßnahmen zwischen Eigenlogik und Umwelt
Maßnahmen in Organisationen sind keine neutralen Werkzeuge, sondern Ausdruck einer komplexen, verschachtelten Innenwelt, die sich in der Außenwelt spiegelt – und umgekehrt. Was Peter Handke als „Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“ beschreibt, findet in organisationalen Kontexten seine praktische Entsprechung: Organisationen reagieren nicht direkt auf äußere Gegebenheiten, sondern stets auf ihre eigene Interpretation dieser Außenwelt. Diese Interpretation ist jedoch bereits durch die organisationale Innenwelt – ein Geflecht aus Routinen, Erwartungen, Machtdynamiken und latenten Ängsten – vorgeprägt.
Gesellschaftliche Normen, Marktlogiken, politische Vorgaben und technologische Innovationen dringen in die Organisation ein, werden dort gefiltert, umgedeutet oder abgewehrt. Aus diesem Austauschprozess generiert die Organisation ihre eigene, einzigartige Innenwelt – einen Deutungsrahmen, der wiederum zurück auf die Außenwelt wirkt. Durch Maßnahmen prägt die Organisation ihr externes Erscheinungsbild, während gleichzeitig unklar bleibt, ob diese Handlungen tatsächlich auf „objektive“ äußere Anforderungen oder auf die intern konstruierte Version der Außenwelt reagieren.
Die Dynamik dieses Wechselspiels lässt sich durch Jean Piagets Konzepte der Assimilation und Akkommodation präzisieren. Organisationen verarbeiten externe Anforderungen nicht passiv, sondern durchlaufen einen aktiven Aneignungsprozess: Bei der Assimilation werden neue Impulse in bestehende Denk- und Handlungsmuster integriert, ohne diese grundlegend zu verändern. Äußere Herausforderungen werden so interpretiert, dass sie zur gewohnten Logik passen – die Innenwelt bleibt stabil, doch das Risiko der Realitätsverzerrung wächst. Akkommodation tritt ein, wenn die Organisation ihre internen Strukturen anpassen muss, um widersprüchliche Anforderungen zu bewältigen. Dieser Prozess transformiert Routinen, Machtverteilungen und Erwartungshaltungen – die Innenwelt verändert sich, doch dies erfordert energieintensive Umstellungsprozesse.
Die Unentwirrbarkeit von Zielen und Maßnahmen als systemisches Paradox
Aus der grundlegenden Erkenntnis, dass Organisationen ihre Umwelt nur durch ihre eigenen Filter wahrnehmen, ergibt sich ein zentrales Dilemma: Es ist oft unklar, ob Organisationen Maßnahmen ergreifen, um bestimmte Ziele zu erreichen – oder ob sie Ziele definieren, um bestehende Maßnahmen zu rechtfertigen. Dieses Wechselspiel zwischen Zielen und Maßnahmen lässt sich nicht linear steuern: Jede Entscheidung verändert sowohl die internen Abläufe als auch die Beziehung zur Umwelt. Häufig stabilisieren sie Machtgefüge oder verdecken latente Interessen. Beispielsweise führt eine Abteilung ein neues Reporting-Tool ein – offiziell zur Effizienzsteigerung, faktisch zur Kontrollausweitung. Die beteiligten Akteure rationalisieren dies jedoch als „alternativlose Notwendigkeit“, was die reflexive Durchdringung des Eigeninteresses erschwert.
Lernfähigkeit erfordert Akkommodation – ein Prozess, der per se Widerstände provoziert. Gleichzeitig zementiert Assimilation bestehende Routinen und begrenzt den Handlungsspielraum. Dieses Nebeneinander ist kein Defekt, sondern inherente Eigenschaft sozialer Systeme. Organisationen navigieren immer zwischen zwei Polen: Zu viel Stabilität führt zur Starre, zu viel Flexibilität zum Kontrollverlust.
Macht, Routine und die Angst vor Kontrollverlust
Je länger Maßnahmen bestehen, desto mehr werden sie zur Routine – unabhängig von ihrer tatsächlichen Wirkung. Sie prägen dann nicht nur das Handeln, sondern auch die Art, wie Ziele formuliert werden. Eine Organisation, die jahrelang auf Kennzahlen fixiert war, wird automatisch neue Ziele in Zahlen ausdrücken – selbst wenn qualitative Aspekte wichtiger wären. Diese Routine-Macht zeigt sich gut an zwei Beispielen:
Ein Unternehmen beharrt auf überholten Key Performance Indicators (KPIs), obwohl sich Marktanforderungen längst verschoben haben. Hintergrund ist nicht rationaler Pragmatismus, sondern die Angst von Entscheidungsträgern, mit neuen Kennzahlen ihre Deutungshoheit zu verlieren. Die „Innenwelt“ der Organisation – geprägt von historischen Erfolgsmustern und internen Machtallianzen – filtert die „Außenwelt“ so lange, bis sie ins eigene Weltbild passt. Das Ikarus Paradox schlägt zu.
In der Softwareentwicklung zeigt sich ein analoges Muster: Trotz klarer Hinweise der Methodenerfinder, dass der Aufwand um Story Points als Werkzeug zum Schätzen von Aufgaben zu verwenden, ihren Nutzen übersteigt, wird weiter mit Story Points geschätzt. Alternative Ansätze wie No Estimates oder datenbasierte Durchlaufzeiten werden ignoriert. Der Grund liegt in der organisationalen „Innenwelt der Außenwelt“: Schätzrituale stabilisieren Planungsroutinen und vermitteln das Gefühl von Steuerbarkeit – selbst wenn sie ineffizient sind.
In unsicheren Situationen greifen Organisationen zu einem paradoxen Mechanismus: Sie implementieren Maßnahmen, um Handlungsfähigkeit zu demonstrieren – selbst wenn deren Nutzen fragwürdig ist. Wer Bilder braucht um sich diese Situationen vorstellen zu können, wird bei Günter Ortmann fündig:
Wenn der vermeintlich feste Boden unter unseren Füßen zu schwanken oder zu sinken droht, ergreift uns ein Schwindel, und fast unweigerlich suchen wir Halt.
Maßnahmen werden zu „Masken der Verzweiflung“ und kaschieren innere Hilflosigkeit nach außen und zementieren gleichzeitig die interne Logik. Ein Krankenhaus führt beispielsweise ein neues Aufnahmesystem ein, um Wartezeiten zu reduzieren. Doch statt die Ursachen der Wartezeiten anzugehen, optimiert es die Dokumentation – die Maßnahme stabilisiert das System, statt es zu verändern.
Das Paradox der organisationalen Selbstreflexion
Organisationen stehen vor einem unlösbaren Dilemma, wenn sie versuchen, ihre blinden Flecken zu erkennen. Der Versuch, die eigenen Wunschbilder zu hinterfragen, ist selbst ein Ausdruck dieser Wunschbilder. Jeder Versuch, problematische Maßnahmen durch reflexive Praktiken zu überwinden, reproduziert die Logik des Systems, das kritisiert wird. Organisationen, die erkennen, dass ihre ständige Produktion von Maßnahmen ein grundlegendes Merkmal ihres Systems ist, können Strategien entwickeln, die diese Eigenschaft nicht versuchen zu verhindern. Stattdessen können sie Wege finden, diese Logik sinnvoll zu nutzen und daraus Vorteile zu ziehen. Die Kunst besteht darin, die inneren Filter zu überdenken. Gerade eine gescheiterte Initiative kann – richtig reflektiert – Routinen, Erwartungen, Machtdynamiken und latente Ängste aufzeigen und neuen Akteuren Zugang gewähren. Die Interessenlagen hinter Maßnahmen offen zu legen erfordert jedoch die Bereitschaft der Akteure, Entscheidungsprozesse als Arenen widerstreitender Deutungsansprüche und Erwartungen sichtbar zu machen.
Quellen
- Handke, Peter: Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1969.
- Piaget, Jean ; Fatke, R. (Hrsg.) ; Kober, H. (Übers.): Meine Theorie der geistigen Entwicklung, Beltz-Taschenbuch. Bd. 142. Weinheim ; Basel ; Berlin : Beltz, 2003 — ISBN 3-407-22142-8
- Ortmann, Günther: Management in der Hypermoderne: Kontingenz und Entscheidung. 1. Aufl. Wiesbaden : VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2009 — ISBN 3-531-15888-0