Probleme sind keine Tatsachen – sie sind Behauptungen

Wie Claimmaker, Kontingenz und Pfadabhängigkeit die Bühne organisationaler Wirklichkeit bestimmen

Probleme erscheinen im organisationalen Alltag oft als objektive Tatsachen – als Störungen, die sich scheinbar von selbst aufdrängen und nach Lösungen verlangen. Doch dieser Eindruck ist trügerisch. Probleme sind keine neutralen Defekte, sondern Behauptungen, die von Akteuren mit bestimmten Interessen, Perspektiven und Ressourcen in die Welt gesetzt werden. Sie sind Spiegelbilder derjenigen, die sie formulieren, und Ausdruck der sozialen, politischen und historischen Konstellationen, in denen sie entstehen.

Die Macht der Behauptung: Wer ein Problem setzt, setzt die Agenda

In Organisationen entscheidet nicht das Problem selbst über seine Sichtbarkeit, sondern derjenige, der es behauptet – der sogenannte Claimmaker. Donileen Loseke hat diesen Prozess mit ihrer „Social Problem Formula Story“ präzise beschrieben: Damit ein Problem als solches anerkannt wird, braucht es eine überzeugende Erzählung. Diese Erzählung folgt einer klaren Dramaturgie: Es gibt ein Opfer, einen Übeltäter, eine Ursache und eine Lösung, die scheinbar alternativlos erscheint. Erst wenn diese Geschichte glaubhaft erzählt und von relevanten Beobachtern akzeptiert wird, entsteht aus einer bloßen Abweichung vom Soll ein „soziales Problem“, das Aufmerksamkeit, Ressourcen und Handlungsdruck erzeugt. Es entsteht letztlich Gefolgschaft gefühlt für den Claimmaker, letztlich aber eher für die Erzählung.

Die Rolle des Claimmakers ist dabei zentral. Wer in der Lage ist, ein Problem zu formulieren und es mit der passenden Story zu versehen, übernimmt die Deutungshoheit und bestimmt, worauf sich die Organisation konzentriert. Andere Perspektiven, alternative Problemgeschichten oder konkurrierende Deutungen bleiben oft unsichtbar – nicht weil sie weniger relevant wären, sondern weil ihnen die nötige Bühne fehlt. In Organisationen wird ständig um Aufmerksamkeit gerungen, eben weil die Anzahl dieser Bühnen endlich ist.

Kontingenz: Es hätte auch anders kommen können

Die Konstruktion von Problemen ist immer kontingent. Was heute als dringliches Problem gilt, war gestern noch Alltag und ist morgen vielleicht schon vergessen. Und was des einen Problem, ist bekanntlich des anderen Lösung. Oder mit Günther Ortmann und anders:

…weil Kontingenz in einer Hinsicht an einer Stelle, Notwendigkeit und Unmöglichkeit in anderer Hinsicht, an anderer Stelle impliziert. Kontingenz verweist auf die Offenheit der Geschichte – auf die Vielzahl möglicher Entwicklungen, die sich aus kleinen Zufällen, unerwarteten Ereignissen oder bewussten Entscheidungen ergeben. [1]

Im organisationalen Kontext wird diese Kontingenz oft übersehen. Routinen, Standards und „Best Practices“ suggerieren, dass Probleme und Lösungen klar erkennbar und eindeutig zuzuordnen sind. Doch in Wirklichkeit ist jede Problemdefinition das Ergebnis eines sozialen Aushandlungsprozesses, in dem Zufälle, Machtverschiebungen und situative Konstellationen eine entscheidende Rolle spielen. Die Frage ist nicht, welches Problem „wirklich“ existiert, sondern warum gerade dieses Problem jetzt sichtbar wird – und nicht ein anderes.

Pfadabhängigkeit: Die Vergangenheit legt die Zukunft fest

Eng verbunden mit der Kontingenz ist das Konzept der Pfadabhängigkeit. Organisationen sind keine leeren Gefäße, sondern historisch gewachsene Systeme. Frühere Entscheidungen, eingefahrene Routinen und etablierte Machtstrukturen beeinflussen, welche Probleme überhaupt als relevant erscheinen – und welche Lösungen als denkbar gelten. Einmal eingeschlagene Pfade verengen den Möglichkeitsraum und machen es schwer, alternative Problemdeutungen oder innovative Lösungen zuzulassen. Die meisten Unternehmen werden Drogenhandel nun mal nicht als kommendes Geschäftsmodell ernsthaft in Betracht ziehen als Lösung etwaiger Umsatzeinbrüche.

Pfadabhängigkeit zeigt sich besonders deutlich, wenn Organisationen immer wieder auf die gleichen Problemformeln und Lösungsrezepte zurückgreifen – selbst dann, wenn diese längst ihre Wirksamkeit verloren haben. Alte Geschichten werden neu erzählt, bekannte Muster reproduziert. Die Organisation wird zum Gefangenen ihrer eigenen Vergangenheit.

Die Social Problem Formula Story: Probleme als narrative Konstrukte

Donileen Losekes Konzept der „Social Problem Formula Story“ macht deutlich, dass Probleme nicht einfach entdeckt, sondern erzählt werden. [2] Die Formel ist dabei erstaunlich stabil:

  • Es gibt ein identifizierbares Opfer („Wir leiden unter…“)
  • Einen klaren Übeltäter („Die Ursache liegt bei…“)
  • Eine dramatische Ursache („Das Problem ist entstanden durch…“)
  • Und eine scheinbar zwingende Lösung („Deshalb müssen wir…“)

Diese narrative Struktur ist anschlussfähig, weil sie Orientierung bietet und Handlungsdruck erzeugt. Sie verschafft dem Claimmaker Autorität und macht es anderen schwer, alternative Sichtweisen einzubringen. Wer die Formel beherrscht, kann Probleme setzen – und Lösungen gleich mitliefern.

Was bedeutet das für den organisationalen Alltag?

Wer im organisationalen Alltag verstehen will, worum es bei „Problemen“ geht, sollte nicht nur nach dem „Was“ fragen, sondern vor allem nach dem „Wer“ und „Wie“:

  • Wer erhebt Anspruch darauf, dass ein Zustand problematisch ist?
  • Mit welcher Social Problem Formula Story wird das Problem inszeniert?
  • Welche alternativen Problemgeschichten wurden übergangen – und warum?
  • Welche Pfadabhängigkeiten und Kontingenzerfahrungen prägen, was als Problem überhaupt sichtbar wird?

Ein produktiver Umgang mit Problemen beginnt dort, wo Organisationen die Kontingenz und Pfadabhängigkeit ihrer Problemkonstruktionen anerkennen und die Vielfalt der Beobachter zulassen. Erst wenn verschiedene Claimmaker mit ihren Geschichten aufeinandertreffen, wird sichtbar, wie sehr Probleme Spiegel von Macht, Zufall und Geschichte sind – und wie viel Freiheit im Umgang mit ihnen tatsächlich möglich wäre.

Wer diese Bühne öffnet, schafft Raum für Neues – und entlarvt so manche scheinbare Notwendigkeit als das, was sie ist: das Ergebnis einer gelungenen Behauptung.


Quellen

[1] (2009). Management in der Hypermoderne: Kontingenz und Entscheidung (1. Aufl.). Wiesbaden : VS Verlag für Sozialwissenschaften.

[2] Loseke, Donileen R. (2003): Thinking About Social Problems: An Introduction to Constructionist Perspectives. Aldine de Gruyter.