
Ziele erscheinen in Organisationen oft wie klare Wegweiser, die uns rational und zielstrebig in die Zukunft führen sollen. Doch wer genauer hinsieht, erkennt: Ziele sind weniger objektive Fixpunkte als vielmehr Spiegelbilder derjenigen, die sie setzen. Sie sind Ausdruck von Machtverhältnissen – und nicht das Resultat neutraler Vernunft oder objektiver Analyse. Wer das übersieht, unterschätzt die sozialen und politischen Aushandlungsprozesse, die jeder Zielsetzung vorausgehen.
Ziele entstehen im Machtfeld – nicht im luftleeren Raum
Ziele fallen nicht einfach vom Himmel. Sie werden von Menschen gemacht, die über Ressourcen, Einfluss oder andere Machtmittel verfügen. Was in einer Organisation als „wünschenswerter Zustand“ gilt, ist selten das Ergebnis nüchterner Analysen, sondern meist das Resultat von Deutungshoheit und geschickter Positionierung im Machtgefüge. Wer sich mit Zieldefinitionen beschäftigt, sollte sich deshalb immer fragen: Wer profitiert von diesem Ziel? Wer kann es durchsetzen? Wer bleibt außen vor?
Organisationen sind, so zeigt die Systemtheorie (Luhmann), keine rationalen Zweckverbände, sondern Systeme, die Komplexität durch Entscheidungsprämissen reduzieren. Ziele sind dabei nicht neutrale Wegmarken, sondern Ausdruck der jeweils dominanten Machtverhältnisse. Sie dienen oft weniger der tatsächlichen Steuerung als vielmehr der Legitimation bestehender Interessen und der Stabilisierung von Machtpositionen[2][3].
Macht ist allgegenwärtig – und nie eindeutig verteilt
Macht in Organisationen ist kein Besitz, sondern ein Beziehungsphänomen. Sie entsteht überall dort, wo Akteure Unsicherheiten kontrollieren, Ressourcen verteilen oder Kommunikationswege bestimmen können[2]. Diese Machtverhältnisse sind nie einseitig: Auch scheinbar „Machtlose“ behalten immer einen Rest an Autonomie, indem sie etwa Anweisungen schlecht ausführen oder durch Verweigerung und Widerstand Einfluss nehmen können[2]. Letztlich ist es „nur“ die Frage, ob man die Konsequenzen tragen kann und will, wenn man die Macht des Anderen verweigert. Das Machtspiel ist also dynamisch und ständig in Bewegung – und Ziele sind ein zentrales Spielfeld dieses Spiels.
Die Vorstellung, Ziele seien objektive, rational ableitbare Fixpunkte, ist eine nützliche Fiktion. In Wahrheit sind sie das Ergebnis von Aushandlungsprozessen, in denen Akteure mit unterschiedlichen Interessen, Ressourcen und Deutungsmacht um die Definition des „Wünschenswerten“ ringen. Wer sich dabei durchsetzt, hängt weniger von der Qualität der Argumente als von der Position im Machtgefüge ab.
Zielprozesse als Bühne für Machtspiele
Die systemische Perspektive lädt dazu ein, Zielprozesse als Bühne für Machtspiele zu betrachten. Hier werden Interessen verhandelt, Koalitionen geschmiedet, Allianzen gebildet und Gegner ausgebootet. Wer Ziele setzt, setzt damit auch die Spielregeln für zukünftige Aushandlungen und verschiebt die Machtverhältnisse zu seinen Gunsten. Die Integration von Zielen in die Organisation ist daher nicht einfach ein Akt der Steuerung, sondern ein politischer Prozess, der immer auch von strategischer Kommunikation, verdeckten Allianzen und symbolischer Machtdemonstration geprägt ist[2].
Ziele dienen so oft weniger der Steuerung als der Legitimation bestehender Interessen. Sie sind Teil der „Unsicherheitsabsorption“ (Luhmann): Sie reduzieren Komplexität, schaffen Orientierung – aber immer im Rahmen der Machtstrukturen, die sie hervorbringen und stabilisieren[3].
Die Paradoxie der Zielsetzung: Steuerung oder Selbsttäuschung?
Organisationen neigen dazu, Ziele als rationale Steuerungsinstrumente zu inszenieren. Doch dieser Glaube ist selbst Teil des Machtspiels. Die Paradoxie: Je mehr wir auf rationale Zielsetzung setzen, desto stärker werden die eigentlichen Aushandlungs- und Machtprozesse verdeckt. Die Organisation erscheint nach außen als vernunftgeleitet, während im Inneren Machtspiele, Koalitionen und strategische Platzierungen den Ausschlag geben[3].
Luhmann spricht hier von der „Paradoxie der Entscheidung“: Jede Entscheidung – und damit auch jede Zielsetzung – ist immer auch willkürlich, weil sie Alternativen ausschließt, die genauso möglich gewesen wären. Die Rationalität der Zielsetzung ist damit immer begrenzt und dient letztlich der Absorption von Unsicherheit, nicht der Herstellung von Wahrheit oder Objektivität[3].
Machtverhältnisse sichtbar machen und produktiv nutzen
Was folgt daraus für die Praxis? Wer mit Zielen in Organisationen arbeitet – sei es als Führungskraft, Berater:in oder Teammitglied – sollte weniger fragen, wie „gute Ziele“ aussehen, sondern vielmehr: Wer profitiert von diesem Ziel? Wer setzt es durch? Wer bleibt außen vor? Zielprozesse sollten für verschiedene Perspektiven geöffnet werden. Es gilt, die dahinterstehenden Interessen, Ressourcen und Machtpositionen explizit zu machen und als Teil des Prozesses zu thematisieren[2]. Diese Reflexion ist kein Vorwurf, sondern notwendige Bedingung für eine realistische Einschätzung organisationaler Realität. Wer verschiedene Perspektiven zulässt und die Machtverhältnisse, die hinter Zielen stehen, offen anspricht – nicht als Vorwurf, sondern als ehrliche Reflexion – erkennt zumindest, wo die eigentlichen Hebel liegen, um Ziele wirklich zu erreichen.
Wer Zielprozesse öffnet und Machtverhältnisse explizit macht, schafft neue Möglichkeiten der Einflussnahme. Macht lässt sich nicht einfach wegmoderieren. Die Öffnung der Zielprozesse, verschiebt die Machtspiele nur – sie verschwinden nicht. Aber genau das ist der entscheidende Schritt: Die Organisation lernt, mit diesen Verschiebungen umzugehen, statt sich von der Illusion objektiver Ziele leiten zu lassen [2][3].
Quellen:
[1] Scholz, L. (n.d.). Begegnungen im Vorraum der Macht.
[2] Levold, T. (2001). Macht und Machtspiele aus systemischer Sicht.
[3] Luhmann, N. (1994). Paradoxien der Entscheidung.
[4] S. Kühl, Wenn die Affen den Zoo regieren ..: zum neuen Umgang mit Unsicherheit in postbürokratischen Wirtschaftsorganisationen, Arbeitsberichte und Forschungsmaterialien / Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld, Forschungsschwerpunkt Zukunft der Arbeit, vol. 83, Bielefeld: FSP „Zukunft d. Arbeit“ an d. Univ., 1993.
[5] Michailakis, Dimitris & Schirmer, Werner. (2014). Social work and social problems: A contribution from systems theory and constructionism. International Journal of Social Welfare. 23. 10.1111/ijsw.12091.
[6] Die Professionalisierung der Professionalisierer https://ppl-ai-file-upload.s3.amazonaws.com/web/direct-files/collection_e4c3c1ca-e7ac-4f96-a3fe-373763824a77/afb18759-5055-4e9a-830e-36a88485c8cf/Die_Professionalisierung_der_Professiona.pdf
[7] Weinberg, Darin. (2009). On the Social Construction of Social Problems and Social Problems Theory: A Contribution to the Legacy of John Kitsuse. The American Sociologist. 40. 61-78. 10.1007/s12108-008-9059-5.