Ziele gelten als unverzichtbare Wegweiser organisationalen Handelns – sie strukturieren, motivieren und schaffen scheinbare Klarheit. Doch diese Klarheit trügt. Ziele, Probleme und Lösungen bilden kein lineares Ursache-Wirkungs-Gefüge, sondern ein selbstreferenzielles System, das sich wechselseitig hervorbringt und begrenzt. Alle drei Elemente kreisen umeinander, getrieben von sozialen Konstruktionsprozessen, Machtressourcen und der Unmöglichkeit neutraler Perspektiven. Der nachfolgende Text möchte aufzeigen, dass es sich nicht um Punkte handelt, die eineindeutig benannt und lokalisiert werden können, sondern um einen Raum, der durch Dekonstruktion und Rekonstruktion von Perspektiven produktiv gestaltet werden muss.
Probleme: Zielgetriebene Risikonarrative
Probleme sind ganz allgemein eine Abweichung von einem gewollten Zustand – doch diese Abweichung ist kein objektiver Tatbestand, sondern ein Risikonarrativ. Nach Niklas Luhmann entsteht ein Risiko, wenn ein möglicher Schaden nicht mehr um des Vorteils willen hingenommen wird. Die Unerwünschtheit des Gegenwärtigen leitet sich erst aus der Projektion eines erwünschten Zukunftszustands ab: dem Ziel. Auf diese Abweichung reagieren wir mit Maßnahmen. In der Regel trifft der Begriff Gegenmaßnahme gut, weil wir uns mit der Maßnahme gegen den Eintritt oder Fortbestand eines Zustandes richten. Der Zeitpunkt der Maßnahme ist im Hier und Jetzt. Zumindest liegt die Maßnahme in aller Regel zeitlich nicht extrem weit weg von der Identifizierung der Abweichung. Wir gehen davon aus, dass wir nach der Durchführung der Maßnahme den gewollten Zustand erreicht haben, in dem wir die Abweichung beseitigt haben. Danach kann alles wieder nach Plan verlaufen.
Der Bezugspunkt für diese Einschätzung kann nur in der Zukunft liegen. Entweder, weil sich das Risiko erst in der Zukunft realisiert oder aber weil die Konsequenz der Realisierung des Risikos erst in der Zukunft Bedeutung erlangt. Gäbe es keinen Abgleich mit einem Ziel, wo käme dann die Unerwünschtheit des Zustands im Heute her? Deshalb gilt aber auch, dass heutige Handlungen ihren Sinn erst in der Zukunft erklären oder herstellen können. Nämlich dann, wenn das Ziel erreicht ist.
Ziele beschreiben wir häufig als Zustände in der Zukunft, die messbar sind. Schließlich wollen wir unser Handeln daran ausrichten, einen Nachweis über die Zielerreichung führen, Verbesserungsmaßnahmen entlang der Metriken entwickeln, einen Grund haben, um zu feiern und natürlich auch dem Spiegelbild gut zu zusprechen, wenn es mal schwierig wird. Ziele fungieren somit als Messlatte, die Sicherheit und Stärke verspricht – wer sie erreicht, gewinnt Spielstärke im Machtgefüge der Organisation.
Maßnahmen: Gefangene der Zielvorstellung
Maßnahmen zielen darauf ab, Abweichungen zu beseitigen. Doch ihre Konzeption ist untrennbar mit der Zielvorstellung verknüpft. Maßnahmen sind in diesem Zusammenhang Handlungen, die darauf gerichtet sind, den abweichenden Zustand im Heute zu beseitigen, mindestens aber zu verändern. Um uns diese Handlungen vorstellen zu können, brauchen wir auch wieder das Ziel. Unsere Ressourcen sind so knapp bemessen wie unsere Kapazitäten. Bei ersterem bin ich mir nicht sicher. Wir wollen möglichst genau wissen, wie der Zustand sein soll, den wir mit unseren Handlungen im Heute zukünftig ermöglichen wollen. Wir versuchen Zahlen an das Ziel zu heften. Wir vereinbaren Messpunkte, an denen ein Teilziel erreicht sein soll. Wir überlegen uns, wann wir das Ziel erreicht haben werden. Wir geben an, welche Mittel wir benötigen, um das Ziel und die Teilziele zu erreichen. Martin Kornberger stellt treffend fest: „Das Ziel vermisst die Kluft zwischen Sein und Sollen, Heute und Morgen, Wirklichkeit und Wunsch.“ (M. Kornberger, Systemaufbruch)
Claimmaker: Konstrukteure der Problemrealität
Probleme existieren nicht an sich, sondern werden durch Claimmaker geschaffen – Akteure, die Abweichungen markieren und ihnen Bedeutung verleihen. Ein Problem ohne Claimmaker ist wie ein ungespieltes Theaterstück: Es mag ein Skript geben, doch erst die Inszenierung macht es relevant. Egal wer der Claimmaker ist, der diese Funktion übernimmt: wenn es niemanden gibt, der dem Problem dadurch Bedeutung verleiht, in dem er die Abweichung vom Ziel veröffentlicht und damit anderen Zugang zum Problem verschafft, ist das Problem nicht wichtig. Ein Problem braucht Bedeutung, um bedeutsam zu sein.
Zusammenfassung: Das Hallali der Erkenntnis
Ein Problem ist eine durch eine Aktivität der Behauptungsbildung entstandene, durch einen Claimmaker konstruierte Anspruchshaltung. Das Problem ist nicht aufgrund der Behauptung des abweichenden Zustands von Bedeutung sondern aufgrund der Markierung durch den Claimmaker. Dabei stützt sich die Anspruchshaltung auf ein Risiko. Die Beseitigung des Risikos bedarf Maßnahmen. Die Ausrichtung dieser Maßnahmen beziehen sich auf einen wünschenswerten Zustand in der Zukunft.
An dieser Stelle könnte man ein Hallali anstimmen – das Ende der Jagd nach Erkenntnis ist gekommen. Probleme erscheinen uns oft als objektive Hindernisse auf dem Weg zu einem Ziel. Doch wie Paul Watzlawick treffend formulierte: „Der Optimist sieht die Flasche halb voll, der Pessimist halb leer.“ – die Frage stellt sich: wer hat Recht? Probleme sind keine objektiven Tatsachen, sondern Konstruktionen – sie entstehen durch die Perspektive eines Beobachters.
Das Paradox der Problemidentifikation
Die eigentlich wichtige Frage ist nicht, was das Problem ist. Die wichtige Frage ist, wie es durch den Claimmaker identifiziert wurde. Probleme sind immer Probleme aus einer bestimmten Sichtweise. Sie sind letztlich Ausdruck der lokalen Rationalitäten des Claimmakers.
Der Raum, in dem Probleme benannt und aufgezeigt werden, wird von verschiedenen Umständen beeinflusst. In Organisationen ist unter anderem die Arbeitsteilung ein ganz wesentlicher Raumausstatter. Damit in Organisationen Arbeit voran getrieben werden kann, ist es notwendig, sich in geeigneter Form darüber auszutauschen, wer welche Aufgabe übernimmt. Durch die Arbeitsteilung entsteht Fokus und ohne Arbeitsteilung wäre an Effizienz nicht zu denken. Ein Einzelner kann nicht alle Aufgaben die anfallen und wichtig sind, zeitgleich durchführen. Auch wenn wir das sehr häufig trotz Arbeitsteilung immer noch versuchen.
Die Fokussierung führt dazu, dass sich über die Themen, die die Akteure in Organisationen bewegen, eigene Auffassungen, Ziele und Interessen entwickeln. Es kommt zu einer eigenen Auffassung darüber, was richtig und was falsch ist. Es bilden sich also differente Vorstellungen darüber aus, welche Werte-, Kultur- und Moralvorstellungen richtig sind. Letztlich sind es also die Auffassungen, die das Handeln der Akteure leiten. Vor allem auch leiten im Hinblick auf die Frage, wer für die Beseitigung und die Entstehung des Problems verantwortlich gemacht werden kann.
Ziele: Spiegel der Machtverhältnisse
Ebenso wie Probleme sind Ziele keine neutralen Fixpunkte einer vorhersehbaren Zukunft, sondern soziale Konstruktionen – hervorgebracht durch dieselben Mechanismen der Deutung und Aushandlung wie Probleme. Welche Zukunftsvisionen plausibel erscheinen, hängt maßgeblich vom Handlungsraum ab, in dem sich Akteure bewegen. In Organisationen wird dieser Raum durch Machtverhältnisse strukturiert: Er wird von jenen „aufgerissen“, die über die nötige Spielstärke verfügen, um ihre Interessen gegen widerstreitende Positionen durchzusetzen. Was als relevant gilt, welche Ziele denkbar sind und welche Lösungsbilder Legitimität erlangen, entscheidet sich somit entlang der Ressourcen dominanter Gruppen – sei es durch formale Autorität, Kontrolle über Budgets oder symbolisches Kapital.
Die Unvorhersehbarkeit der Zukunft verstärkt diesen Mechanismus: Da klare Prognosen unmöglich sind, werden Ziele zu Legitimationsnarrativen, die weniger planerische Funktion erfüllen als vielmehr Handlungsfähigkeit suggerieren. Akteure platzieren plakative Lösungsbegriffe wie „Innovation“ oder „Nachhaltigkeit“, die als scheinbar unangreifbare Bezugspunkte dienen. Diese Rhetorik stabilisiert Machtverhältnisse, denn wer Deutungsräume besetzt, definiert auch, was als Abweichung vom Ziel gilt. So entsteht ein Kreislauf: Ziele markieren nicht nur erwünschte Zustände („Wir wollen X erreichen“), sondern konstruieren zugleich Problemdiagnosen der Gegenwart („Weil wir nicht X sind, müssen wir Y tun“).
Schwächere Akteure scheitern in diesem System selten an inhaltlichen Schwächen ihrer Konzepte, sondern daran, dass ihre „Problem-Ziel-Lösungs-Konstellationen“ im Machtgefüge keine Resonanz finden. Besonders gravierend wird dies, wenn praktikable Lösungen durch Deutungshoheiten ins Reich des Undenkbaren verdrängt werden. Teilweise entstehen so Organisationsmodelle, die allein deshalb Gefolgschaft finden, weil sie knappe Kompetenzen (momentan z. B. Data Engineering, Data Science, Machine Learning) als zentrale Hebel inszenieren – ohne kritische Reflexion alternativer Ansätze. Die Masse der Transformations-Initiativen erzeugt dann eine Eigendynamik: Was häufig eingeführt wird, gilt per se als relevant, ungeachtet seiner tatsächlichen Wirkung.
Letztlich offenbart die Zielsetzung in Organisationen weniger rationales Management als vielmehr die Fähigkeit, Deutungsmacht zu institutionalisieren. Sie ist untrennbar mit der Konstruktion von Problemen verbunden – ein Spiegelbild der Macht, die bestimmte Akteure besitzen, um nicht nur Zukünfte zu entwerfen, sondern auch die Gegenwart als defizitär zu markieren.
Die Macht der Interventionisten: Deutungsmacht als Geschäftsmodell
Die Macht der Interventionisten – Coaches und Berater – entfaltet sich genau an der Schnittstelle, an der Ziele, Probleme und Lösungen verhandelt werden. Ihre Methoden und Modelle wirken wie unsichtbare Architekturen, die festlegen, was überhaupt als sichtbarer Ausschnitt der organisationalen Realität gelten darf. Indem sie bestimmte Aspekte hervorheben, lenken sie den Fokus notwendigerweise weg von anderen Bereichen, die dadurch in den Hintergrund treten. Dieses Spiel zwischen Sichtbarmachung und Unsichtbarkeit ist kein Zufall, sondern konstitutiver Teil ihrer Rolle. Effizienz erfordert es, den Blick zu begrenzen; die Komplexität der Welt lässt sich nur durch solche Filter bewältigen. Doch genau hier liegt die Ambivalenz: Jede Methode, jedes Denkmodell ist historisch gewachsen, um spezifische Problemtypen zu adressieren. Ein Scrum-Framework etwa ist auf iterative Prozesse zugeschnitten, systemische Ansätze auf Kommunikationsmuster. Wer diese Werkzeuge anwendet, sucht automatisch nach den Problemen, für die sie geschaffen wurden – ein klassischer Fall des Hammers, der überall Nägel vermutet, selbst wenn es sich um Schrauben handelt.
Diese Dynamik wird verstärkt durch den professionellen Druck, unter dem Interventionisten stehen. Ihre Communities erwarten die Anwendung etablierter Modelle, was zu einem paradoxen Kreislauf führt. Angelehnt an Jean Piagets Konzepte der Assimilation und Akkommodation lässt sich beobachten: Statt neue Realitäten in bestehende Denkmuster zu integrieren, werden sie oft gewaltsam angepasst. Wenn der eigene Handlungsraum keine passenden Probleme mehr bietet, weichen Coaches und Berater in neue Märkte aus – nicht selten ohne kritisch zu prüfen, ob ihre Methoden dort sinnvoll anwendbar sind. So entstehen Lösungen, die nach Problemen suchen, statt umgekehrt.
Hinzu kommt die Tendenz zur Simplifizierung. Aussagen wie „Wirksamkeit ist das Lösen relevanter Probleme“ suggerieren eine Linearität, die der Komplexität organisationaler Wirklichkeit nicht gerecht wird. W. Ross Ashbys Gesetz der erforderlichen Vielfalt warnt hier: Ein System kann nur dann effektiv steuern, wenn seine Handlungsoptionen die Komplexität der Umwelt spiegeln. Doch viele Methoden reduzieren genau diese Vielfalt, indem sie vorgefertigte Antworten liefern. Die Folge ist eine sich selbst erhaltende Logik: Erfolgreiche Modelle institutionalisieren sich, verengen den Denkraum und definieren zugleich, welche Abweichungen vom Ziel überhaupt als Probleme gelten dürfen.
Letztlich offenbart sich hier ein zentrales Paradox: Je wirkmächtiger ein Beratungsansatz wird, desto mehr schrumpft die Bandbreite denkbarer Zukünfte. Was als effiziente Lösung gepriesen wird, erweist sich als Einbahnstraße – ein Spiegelbild der Machtverhältnisse, in denen bestimmte Interventionisten die Deutungshoheit über das „Richtige“ und „Mögliche“ beanspruchen. Die eigentliche Kunst läge darin, diesen Kreislauf zu durchbrechen: nicht durch Verzicht auf Methoden, sondern durch die stete Infragestellung ihrer unsichtbaren Grenzen.
Ein Vorschlag zum Umgang: Vom starren Framework zu einem Netzwerk aus Praktiken
Angesichts der zuvor beschriebenen Dynamiken stellt sich die Frage: Wie lässt sich der Teufelskreis aus verengten Denkmodellen und selbstreferenziellen Zielkonstruktionen durchbrechen? Ein Ansatz liegt im radikalen Perspektivwechsel – der Anerkennung, dass Probleme nie monolithisch, sondern stets soziale Artefakte sind. Sie entstehen durch die Bewertungen sogenannter Claimmaker, die ihre Deutungshoheit nutzen, um bestimmte Zustände als Abweichung von einem Zielzustand zu markieren. Diese Konstruktionen sind nie neutral; sie speisen sich aus kulturellen Werten, Machtbeziehungen und impliziten Fortschrittsversprechen, die wiederum die Identität der Akteure prägen.
Um ein Problem wirklich zu verstehen, reicht es nicht aus, seine Oberfläche zu analysieren. Entscheidend ist, die unsichtbaren Fäden freizulegen, aus denen es gewoben wurde: Welche Annahmen liegen der Behauptung zugrunde? Welche Praktiken – das Zusammenspiel von Glaubenssätzen, Werkzeugen und Fähigkeiten – haben dazu geführt, dass genau diese Problemdefinition plausibel erschien? Hier zeigt sich die Krux: Ein Problem ist nicht, es wird, und zwar durch den Blickwinkel desjenigen, der es benennt. Eine Dichotomie von „richtig“ und „falsch“ ist daher nicht nur nutzlos, sondern kontraproduktiv. Stattdessen gilt es, die Logiken aller Beteiligten ernst zu nehmen – selbst wenn sie sich widersprechen. Das benennen eines Problems durch einen Akteur sollte Grund genug sein, davon auszugehen, dass sie zu wissen meinen, das es etwas gibt. Auch der Claimaker hat gute Gründe für sein Handeln.
Dies erfordert einen Prozess der kollaborativen Dekonstruktion: Akteure müssen gemeinsam erforschen, unter welchen Bedingungen ein Problem überhaupt als solches sichtbar wurde. Welche Variablen wurden priorisiert, welche ausgeblendet? Welche historischen Pfade oder organisationalen Mythen haben dazu beigetragen? Erst wenn diese Schichten freigelegt sind, kann eine Rekonstruktion beginnen – kein harmonisches Einheitsbild, sondern ein Mosaik aus Perspektiven, das Widersprüche zulässt. Es müssen Räume aus Optionen und Möglichkeiten auf Basis verschiedener Perspektiven entstehen. In solchen Räumen entstehen keine monokausalen Lösungen, die komplexe Systeme „reparieren“.
Lösungen, Ziele und Probleme sind somit nicht Start- oder Endpunkte, sondern Knoten in einem endlosen Geflecht zirkulärer Rückkopplungen. Jede „Lösung“ generiert neue Problemkonstellationen, die wiederum nach neuen Zielen verlangen – ein Kreislauf, der an die Ästhetik eines Mobiles erinnert: Berührt man einen Teil, gerät das Ganze in Bewegung. Die Kunst liegt darin, diese Dynamik nicht als Bedrohung, sondern als Ressource zu begreifen. An die Stelle exakter Messbarkeit tritt dann die Fähigkeit, im Fluss der Optionen zu navigieren – nicht um Finalität zu erreichen, sondern um die Frage zu stellen: Ist das Folgeproblem, das wir schaffen, lebensdienlicher als das, das wir zu lösen glaubten? In dieser Haltung zeigt sich letztlich, was es heißt, Organisationen als lebendige Sozialsysteme zu verstehen – nicht als Maschinen, die man optimiert, sondern als Organismen, die man begleitet.
„Die Lösung ist das Problem“, schrieb Watzlawick einst provokant. Gemeint hat er aber: „Das Ziel ist Teil des Problems – und beides ist Teil der Lösung.“